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12. Mai 2013: - Nidden -Rossitten - Cranz
Um acht Uhr sitzen wir beim Frühstück im Gästehaus Aika in Nidden/Nida auf der litauischen Seite der Kurischen Nehrung. Hier hat sich unser Grüppchen an den vergangenen beiden Tagen zusammengefunden und ist schnell miteinander warm geworden. Zwei von uns sind mit eigenen Rädern angereist, die anderen haben sich bei einem örtlichen Fahrradverleih mit Rädern versorgt. Nun sind die Radtaschen gepackt, und wir fiebern der Abfahrt entgegen.
Um neun Uhr stehen wir abfahrbereit mit Rädern und Gepäck vor dem Haus. Das Wetter ist kühl und es nieselt. Da stellt Jens fest, dass an seinem Leihfahrrad ein Mantel abgefahren und porös ist. Das fängt ja gut an. Bernd und Jens bringen Fahrrad zum Verleiher. Etwa eine halbe Stunde warten wir mit wachsender Ungeduld. Dann bringt der Verleiher das mit einem neuen Mantel ausgestattete Fahrrad. Endlich geht es los.
Bernd, unser deutscher Tourenleiter, hatte uns angekündigt, dass es auf der heutigen Tagesetappe nur einen Anstieg geben würde, und zwar gleich nach der Ausfahrt aus Nidden. Da liegt er schon vor uns und bringt uns in den nächsten Minuten ordentlich ins Schnaufen. Doch er ist schnell bewältigt, und nun können wir entspannt auf der flachen, ruhigen Straße der Nehrung weiter radeln.
Nach wenigen Kilometern sind wir an der litauisch-russischen Grenze. Es ist ein kleiner Grenzübergang mit wenig Betrieb. Die Grenzbeamten sind freundlich. Maren hält dem russischen Grenzer ihren Pass vor lauter Eifer direkt vors Gesicht. Alle lachen, auch der Beamte schmunzelt.
Kurz hinter der Grenze, an einer Bushaltestelle stößt unser russischer Tourenleiter, Vadim, zu uns. Gemeinsam geht es weiter bis zum ersten touristischen Halt, der Ephadüne, so genannt nach dem Düneninspektor Wilhelm Franz Epha, unter dessen Leitung die Düne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bepflanzt und so stabilisiert wurde. Am Fuß der Düne stehen viele hölzerne Verkaufsbuden, an denen man Bernstein kaufen kann. Der Pfad auf die Düne führt auf Holzstegen über den sandigen Boden durch den Kiefernwald. Oben gibt es eine hölzerne Plattform und einen phantastischen Ausblick über Nehrung, Haff und Ostsee.
Die nächste Etappe bringt uns zum „Tanzenden Wald": Hier wachsen Kiefern mit spiralförmig verdrehten Stämmen. Sie bilden Wellen, Kreise und Schlaufen. Manche zwirbeln sich zuerst ausgiebig am Boden, bevor sie sich überhaupt in die Höhe schwingen. Bis heute gibt es keine wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen.
Später besuchen wir die Vogelwarte von Rossitten/Rybatschi. Hier dienen große Netze als Fangreusen, durch die die Vögel in kleinere Käfige hinein fliegen. Von dort werden sie in das Blockhäuschen der Vogelwarte gebracht, untersucht, gemessen und gewogen. Ein Mitarbeiter der Vogelwarte erklärt uns den Ablauf der Untersuchung, Dokumentation und Beringung. Zur Veranschaulichung hält er eine Grasmücke zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt. Der kleine Vogel hängt, wahrscheinlich in Schockstarre, in der Hand des Vogelkundlers, während dieser lebhaft gestikulierend in geschliffenem Englisch erzählt. Schließlich darf Maren den Vogel übernehmen und durch das Fenster in die Freiheit entlassen.
Weiter geht es auf der Straße durch duftenden Kiefernwald hindurch nach Cranz/Zelenogradsk. Dort angekommen, beziehen wir unsere Hotelzimmer und machen dann einen Abendspaziergang durch den Ort. Es gibt viele verfallene Häuser und bewohnte Häuser in sehr renovierungsbedürftigem Zustand, dazwischen aber auch immer wieder luxuriöse Prachtbauten. Zwei Extreme, dicht beieinander, die uns auf unserer Tour durch das Königsberger Gebiet immer wieder auffallen werden. Nach einem leckeren Essen in einem Restaurant am Strand und dem obligatorischen Verdauungs-Wodka ziehen wir uns ins Hotel zurück.
13. Mai 2013: Cranz - Rauschen - Palmnicken
Pünktlich um acht Uhr versammeln sich alle am Frühstückstisch. Draußen gießt es in Strömen. Es gibt Pfannkuchen mit Hackfleisch-Buchweizen-Füllung, etwas Brot, Wurst, Käse, Tomaten und Gurken, leider keine Marmelade.
Eine Stunde später hat der Regen aufgehört, pünktlich zu unserer Abfahrt. Es ist kühl und bedeckt, aber trocken, gutes Radfahrwetter. Die erste Etappe führt an Schnellstraßen entlang durch das Samland. Die Gegend ist hügelig, und wir kommen bei den Bergauf-Etappen immer wieder ordentlich ins Schwitzen. Bergab genießen wir dann die Belohnung. Zwischendurch eine kurze Rast an einem Dorfladen, wie es sie hier überall gibt. Sie sind winzig, scheinen aber alles zu haben, was man im Alltag braucht, Haushaltswaren, Kosmetika, Konserven, Obst, Gemüse, Brot, Süßigkeiten, Getränke. Wir kaufen Wasser, Bananen und Schokoriegel.
Schräg gegenüber dem Geschäft befindet sich das Ehrenmal eines sowjetischen Kriegshelden. Es ist heute, wenige Tage nach dem 9. Mai, der in Russland als „Tag des Sieges" gefeiert wird, reichlich mit Blumen geschmückt. Wenige Meter entfernt ein Haus aus deutscher Zeit, an dessen Wand noch knapp die Teile „Wurst" und „Fleischermeister" der zerbröckelnden deutschen Aufschrift zu erkennen sind.
Später, bei der Einfahrt nach Rauschen/Svetlogorsk ist ein besonders steiler Hügel zu bewältigen. Bernd verspricht demjenigen, der es schafft, hinaufzufahren, eine Flasche Wodka zur Belohnung. Die meisten von uns schieben schnaufend ihre Räder nach oben. Jens strampelt tapfer in die Pedalen und versucht, den Anstieg in kleinen Serpentinen zu bewältigen, bis er schließlich einfach gegen den Hang kippt. Hardy, unser ältester und erfahrenster Radfahrer, schafft tatsächlich den ganzen Anstieg per Rad und darf sich auf die versprochene Belohnung freuen.
Im Zentrum von Rauschen gibt es viele gut sanierte und elegante Häuser und relativ wenig Verfall. Der Ort wird von Moskauer Oligarchen als Ferienort genutzt. Auf der gepflegten Strandpromenade stehen dicht an dicht Stände, an denen Bernsteinschmuck verkauft wird.
Nach einer Mittagspause in einem Restaurant fahren wir weiter nach Palmnicken/Jantarny. Ein Aussichtspunkt lenkt den Blick auf den Strand und ein Holocaust-Denkmal. Hier hatte im Januar 1945 ein großes Massaker an Juden stattgefunden, bei dem ca. 7000 Insassen einer Außenstelle des KZ Stutthof in den Tod getrieben worden waren.
14. Mai 2013: Palmnicken - Königsberg
Heute geht es nach Königsberg/Kaliningrad. Die Landschaft wird allmählich flacher. Je näher wir an Königsberg herankommen, umso dichter wird der Verkehr. An Schnellstraßen entlang geht es in einen Außenbezirk der Stadt, dann auf kleineren unbefestigten Straßen mit vielen Schlaglöchern zum Fort V, einem von zwölf Forts, die im neunzehnten Jahrhundert rund um Königsberg errichtet worden waren. Von dort fahren wir zum Hafen und dann am Pregel entlang in die Innenstadt.
Am Königsberger Dom stellen wir unsere Räder ab und schlendern einmal um das Gebäude. Der Dom wurde seit 1992 restauriert und dient heute als evangelische und orthodoxe Kapelle, Museum und Konzertsaal. Bernd berichtet uns von einem älteren russischen Mann, der oft hier ist und den Touristen etwas über die deutsche Geschichte erzählt. Kaum hat er den Satz zu Ende gesprochen, taucht der Mann auf, erkennt uns als deutsche Reisegruppe und beginnt seinen detailreichen Vortrag. Leider haben wir wenig Zeit, wir sehnen uns nach einer Pause in einem Café, und so bemüht Bernd sich, ihn so höflich wie möglich zu unterbrechen und uns von ihm loszueisen. „Aber Sie sind doch Deutsche", ruft der Mann enttäuscht hinter uns her, „Sie müssen doch Ihre Geschichte kennen ...".
Er tut uns ein bisschen Leid mit seinem hartnäckigen Eifer. Nichtsdestotrotz zieht es uns in ein Café des neu erbauten „Fischdorfes", eines historisierenden Gebäudekomplexes am Pregel, ein paar Schritte vom Dom entfernt.
Frisch erholt beginnen wir unter Vadims Leitung unsere Besichtigungstour per Fahrrad durch die Königsberger Innenstadt. Die gestaltet sich abenteuerlich, denn der Verkehr ist schnell und chaotisch, die Straßen haben Schlaglöcher, und an Radfahrer ist man hier kaum gewöhnt. Wir fahren abwechselnd auf Straßen und Bürgersteigen und bemühen uns, im Stadtgewimmel beisammen zu bleiben. So geht es in flottem Tempo am „Platz des Sieges" mit der neuen Christ-Erlöser-Kathedrale, am Theater, an der Börse, am Amtsgericht und am Haus der Räte vorbei. Schließlich landen wir in unserem Hotel am Oberteich. Nach einem gemeinsamen Abendessen teilt sich die Gruppe auf und erkundet in kleinen Grüppchen noch einmal in Ruhe die Stadt.
15. Mai 2013: Königsberg - Tapiau - Taplacken
Durch den hektischen und leicht beängstigenden Stadtverkehr geht es allmählich aus Königsberg heraus. Allmählich lässt der Verkehr nach. Uns umgibt wieder mehr Natur und lässt uns aufatmen. Durch Felder und Wälder geht es in Richtung Tapiau/Gwardeisk. Das Wetter hat sich seit unserer Abfahrt jeden Tag ein wenig weiter erwärmt, so dass es inzwischen angenehm frühsommerlich ist und wir die Regenjacken im Gepäck verstauen konnten.
Mitten im Wald stoßen wir auf einen kleinen Friedhof und staunen darüber, dass hier jede Grabstelle von einem kleinen Zaun umgeben ist. Neben manchen Grabstellen steht ein kleines, fest montiertes Tischchen, auf einem liegt ein Rest Brot. An besonderen Tagen wird hier eine Mahlzeit an der Seite des Verstorbenen eingenommen.
Kurz vor Tapiau überqueren wir den Pregel. dann machen wir einen kurzen Abstecher zu dem schlichten, kleinen Geburtshaus von Lovis Corinth. Das Stadtzentrum macht mit seinem großen gepflasterten Platz, den schmiedeeisernen Straßenlaternen und den gepflegten Häusern einen freundlichen, sauberen Eindruck. Der Platz wirkt noch etwas kahl, doch rings um ihn sind Bäumchen gepflanzt
Zum Mittagessen gehen wir ins „Café Preußen". Hier verbringen viele Berufstätige aus der Umgebung ihre Mittagspause. Wir machen es wie sie und bestellen ein „Business Lunch", eine schlichte, aber gute Mahlzeit, und Kwas, ein säuerliches und leicht malziges Erfrischungsgetränk, das in Russland sehr beliebt ist. Vom Nebentisch steht ein Herr auf, tritt an unseren Tisch und begrüßt uns in gutem Deutsch. Er wünscht uns einen guten Appetit und eine gute Reise, und während wir uns über diese etwas feierliche Ansprache wundern, stellt er sich uns als Bürgermeister von Tapiau vor. Offenbar findet er uns als deutsche Reisegruppe wichtig genug für diese repräsentative Geste.
Da unsere ursprünglich geplante Unterkunft in Labiau gerade renoviert wird, müssen wir kurzfristig auf ein anderes Hotel ausweichen, und so beschließen wir die heutige Tagesetappe in Taplacken/Talpaki in einer Art Fernfahrer-Motel im Wildwest-Stil, mit Pferdeweide und kleinen halboffenen Blockhütten zum Draußen-Sitzen. Leider wurden trotz unserer Anmeldung die Zimmer nicht hergerichtet. Wir finden sie ungereinigt und mit benutzter Wäsche und benutzten Handtüchern vor. Man verspricht uns, die Zimmer in Ordnung zu bringen und serviert uns auf Bernds Aufforderung Gratisbiere als Entschädigung. Also ziehen wir uns mit unseren Bieren in eines der Blockhäuschen zurück. Es dauert lange, doch schließlich sind die Zimmer fertig, und wir können einziehen.
16. Mai 2013: Taplacken - Labiau - Gilge
Am nächsten Morgen erfahren wir, dass Frühstück erst ab zehn Uhr angeboten wird. Das ist uns zu spät, also probieren wir den urigen Fernfahrer-Rastplatz in der Nachbarschaft aus, wo wir zu Kaffee und Tee aus Pappbechern frisch zubereitete, fettige Pfannkuchen verputzen. Ein üppiges Frühstück, aber wir werden es ja bald wieder abtrainieren.
Mit Hügeln haben wir nun nicht mehr zu kämpfen. Die Landschaft ist flach und weit. Dafür brennt nun die Sonne auf uns herunter und lässt uns ins Schwitzen geraten. In jedem Dorf, das wir durchfahren, haben sich Störche auf Türmen und Dächern ihre Nester gebaut. Und in fast jedem Dorf, das wir durchfahren, gibt es frei laufende Wachhunde, die bei der ungewohnten Kolonne auf Rädern vor „ihrem" Haus in Wallung geraten. Immer wieder läuft es auf ein Wettrennen mit einem kläffenden Vierbeiner hinaus, bei dem wir schleunigst versuchen, unsere nackten Waden in den kurzen Fahrradhosen in Sicherheit zu bringen.
Dies ist wohl das Ostpreußen, an das sich manche unserer Großeltern so gerne erinnerten: Saftiggrüne Wiesen voller Butterblumen, kleine Haine, der weite, blaue Sommerhimmel und zwischendurch auch einmal ein verlassenes Gutshaus, das Phantasien über eine vergangene Lebensart weckt.
Mittags erreichen wir Labiau/Polessk. Heute werden wir kein Restaurant aufsuchen, sondern gehen stattdessen auf den Markt, wo wir alles Nötige für ein Picknick kaufen. Maren beginnt lebhafte Verhandlungen mit einer Händlerin, die Spangen, Kämme, Stirnbänder verkauft. Dass sie kein Russisch und die Händlerin kein Deutsch spricht, fällt nicht weiter ins Gewicht. Mit Händen, Füßen und Mimik geht es munter voran, und Maren zieht schließlich zufrieden mit ihrer Ausbeute von dannen.
Bei einem Kwas-Händler, der mit seinen gelben Tonnen neben einer Lenin-Statue steht, versorgen wir uns mit Getränken. Dann lassen wir uns zum Picknick auf ein paar Bänken am Ufer der Deime nieder und genießen ein entspanntes Mahl im Schatten von Bäumen und umgeben von Maikäfern.
Danach geht es am Großen Friedrichsgraben entlang, der die Deime mit der Memel verbindet, in Richtung Elchwerder/Golowkino. Es ist eine friedliche, etwas staubige Tour am Wasser entlang. Bei Elchwerder wird eine Straße gebaut, und wir rumpeln in gleichmäßigem Rhythmus über die rohen, noch nicht verfugten Betonplatten.
Am Spätnachmittag erreichen wir Gilge/Matrosovo, ein kleines, verschlafenes Dörfchen, quasi am Ende der Welt. Hier ist tatsächlich die Straße zu Ende. Sollte es morgen nicht klappen mit dem Boot, das uns ein Stück weit die Gilge entlang transportieren soll, dann müssen wir die ganze Strecke bis Labiau wieder zurückfahren, denn eine Straße in Richtung Tilsit/Sovetsk gibt es hier nicht.
Wir beziehen Quartier in dem einfach ausgestatteten Gästehaus von Leni Ehrlich, einer Russlanddeutschen, die das Haus seit 1993 betreibt. Vier von uns bekommen Zimmer im Haupthaus, vier in der wenige Meter entfernten Dependence. Nach einem Bummel ums Dorf herum geht es zum Duschen in das Häuschen am Bootsanleger, an dem gerade eine Gruppe deutscher Kanuten träge den Feierabend genießt. Sauber und erfrischt lassen auch wir in der friedlichen Sommerabendstimmung die Seele baumeln. Auf den schiefen Bootsanlegern, die hier vor jedem Grundstück über den Fluss ragen, sitzen Männer und angeln. Nur gelegentlich hört man jemand sprechen. Die Luft ist erfüllt von Summen, Zirpen, Quaken, Kuckuck-Rufen und leisem Geplätscher, wenn Fische springen und wieder ins Wasser tauchen. Die Abendsonne taucht die Szenerie in ein warmes Licht, das auf dem Wasser glitzernd reflektiert.
Bei Lenis üppigem Abendessen erfahren wir, dass wir am nächsten Morgen mit einem Boot bis nach Seckenburg/Sapowednoje gefahren werden. Wir sind erleichtert, dass uns die lange Rückfahrt bis nach Labiau erspart bleibt.
17. Mai 2013: Gilge - Seckenburg - Tilsit
Auch am Morgen ist die Tierwelt wieder aktiv, und so wachen wir vor dem Hintergrund eines vielstimmigen Vogel- und Froschkonzertes auf. Nach dem Frühstück bringen wir unser Gepäck an den Anleger, wo unser „Kapitän" schon auf uns wartet. In das Boot passen maximal vier Fahrgäste; deshalb haben wir uns in zwei Gruppen aufgeteilt, die nacheinander ca. dreizehn Kilometer weit die Gilge flussaufwärts gefahren werden.
An das Boot, in dem wir sitzen werden, ist mit einem Seil ein zweites Boot gebunden. Dort hinein werden nun unsere Fahrräder verladen. Wir steigen ein, der Motor wird angelassen, durchbricht knatternd die Morgenstille, und es geht los.
Breit und ruhig wie ein Spiegel liegt der Fluss vor uns, gesäumt von üppigem Grün. Es riecht etwas moorig. Im Boot herrscht Stille. Wir genießen den Frieden der Szenerie.
Nach etwa vierzig Minuten legt das Boot an einem adretten Anlegeplatz mit sorgsam gemähtem Gras an. Hinter Zäunen und Toren stehen gepflegte, aber dezente Häuser mit schönen Gärten, wie man sie in dieser Region selten sieht. Sonst ist hier alles von dem extremen Gegensatz zwischen Verfall und Luxus geprägt. Auf zwei Bänken am Fluss warten wir auf die anderen aus unserer Gruppe.
Nach einer knappen Stunde sind wir wieder vollständig. Wir fahren an der Gilge entlang, an Wiesen voll mit leuchtend gelbem Löwenzahn vorbei durch grüne Weite. Immer wieder sehen wir Störche. Die Sonne strahlt auf uns herab und heizt uns ordentlich ein. Nach einer Weile verlassen wir den schmalen, unbefestigten Weg und fahren auf ruhigen Straßen weiter. Die Landschaft ist flach, aber es kommt ein Wind auf, der uns kräftig entgegen bläst. So werden auch heute Muskeln und Ausdauer wieder ordentlich gefordert.
Wir erreichen den Stadtrand von Tilsit/Sovetsk und fahren auf der Stolbecker Straße, die holprig und voller Schlaglöcher ist, in Richtung Stadtzentrum. Zu beiden Seiten Häuser aus deutscher Zeit mit bröckelndem Putz, hängenden Fensterläden, rostigen Balkongittern. An der Wand eines Hauses kurz vor dem Zentrum ist noch ein Schriftzug zu sehen, den ein Deutscher kurz vor Kriegsende aufgebracht haben muss: „Rache für Nemmersdorf"; schräg gegenüber ein ähnlich altes und heruntergekommenes Haus mit der deutschen Aufschrift „Soldatenheim".
Mitten in der Innenstadt an einem Platz mit Lenin-Statue kommen wir beim Hotel Rossija an, einem schmucklosen Kasten mit recht komfortablen Zimmern. Nachdem wir uns den Staub abgeduscht haben, brechen wir zu einem Bummel durch die Fußgängerzone auf. Die frühere Hohe Straße ist in den letzten Jahren sehr gut hergerichtet worden. An ihrem einen Ende steht eine Elchstatue und ein paar Meter entfernt ein alter Straßenbahnwaggon aus deutscher Zeit. Die Fußgängerzone ist frisch gepflastert und mit hübschen Straßenlaternen ausgestattet, viele Gebäude sind neu saniert und einige Straßenschilder weisen neben den heutigen russischen auch die früheren deutschen Straßennamen auf. Inzwischen besinnt man sich der Geschichte der Region und geht respektvoll mit ihr um.
Am anderen Ende der Fußgängerzone kommt man zur Luisenbrücke, dem einstigen Wahrzeichen der Stadt. Die Brücke wurde 1907 zum Gedenken an Königin Luise errichtet. In ihrer Mitte verläuft die russisch-litauische Grenze, die wir morgen überqueren werden.
Später am Abend lockt uns ein großer Biergarten nur wenige Schritte vom Hotel entfernt, aus dem laute Musik über den Platz schallt. Hier kann man an einem Stand Essen und Getränke kaufen. Vorne auf einer Bühne trägt ein Paar tanzbare russische Schlager mit Playback vom Band vor. Direkt vor der Bühne tanzt eine Gruppe Frauen mittleren Alters ausgelassen und ausdrucksvoll. Wir bestaunen das für unsere Begriffe schrille Outfit vieler Frauen: Leopardenmuster, pinkfarbene Plastikblumen, grelle Farben, wilde Muster und die unvermeidlichen hohen Pfennigabsätze, auf denen sie gekonnt über den unebenen Boden stöckeln. Gut gelaunt und genussvoll bei Wodka, Bier und Schaschlik beschließen wir diesen vorletzten Abend unserer Reise.
18. Mai 2013: Tilsit - Heydekrug - Nidden
Um neun Uhr sind wir startbereit. Zum Abschied wird die Lenin-Statue vor dem Hotel Rossija einmal umrundet, dann geht es zum Grenzübergang an der Luisenbrücke. Die Formalitäten erfordern ein wenig Geduld, verlaufen aber reibungslos, und nach einer Stunde sind wir wieder in Litauen. Wir radeln in flottem Tempo an der nur wenig befahrenen Straße entlang in Richtung Haff. Anfangs gibt es zu beiden Seiten der Straße Wald, der wunderbar kühlen Schatten spendet. Heute haben wir ausnahmsweise einmal Glück mit dem Wind: Er kommt von hinten und belohnt uns für das manchmal etwas mühsame Gestrampel der letzten Tage.
Wie gepflegt die Häuser und die ganzen Ortschaften hier aussehen. Was für ein Unterschied zum Königsberger Gebiet.
Mittags essen wir in Heydekrug/Silute in einem schicken Hotel-Restaurant. Den Versuch, im Garten des Restaurants zu sitzen, haben wir wegen der vielen Mücken aufgegeben. Als Vorspeisen probieren wir eine Reihe von litauischen Snacks. geräucherte Schweineohren mit Meerrettichsoße, geröstete Brotstücke in einer cremigen Käsesoße und Erbspüree. Lecker.
In gemütlichem Tempo geht es weiter nach Ruß. Zum ersten Mal auf der gesamten Tour mahnt Bernd, unser Reiseführer uns zur Langsamkeit. Wir sind auf der ersten Etappe des Tages so flott vorangekommen, dass er eine längere Wartezeit auf das Boot befürchtet, das uns übers Haff nach Nidden bringen soll. Also machen wir bei Ruß noch einen kleinen Schlenker und fahren an einem der Arme der Memel entlang, die sich hier auffächert und ein breites Delta bildet. An einer Bushaltestelle sitzen wir auf Bänken und trinken gesüßten Kaffee aus Pappbechern, den wir in einem kleinen Laden gekauft hatten. Eine Gruppe Störche fliegt in elegant schwingenden Kreisen und Bögen über unseren Köpfen.
In gelassenem Tempo geht es schließlich zu einem kleinen Hafen. Dort wartet schon unser Boot. Die beiden jungen Litauer, die es fahren, verladen unsere Fahrräder aufs Dach und befestigen sie mit Seilen. Wir sitzen auf bequemen Bänken und werden mit Erfrischungsgetränken und Gebäck verwöhnt.
Knapp anderthalb Stunden dauert die ruhige Überfahrt nach Nidden. Entspannt und ruhig erleben wir das Ende unserer einwöchigen Tour. Es war eine bewegende Reise voller Eindrücke in einer Region voller Gegensätze: deutsche Vergangenheit und russische Gegenwart, Verfall und Luxus, hektischer Verkehr und weite Stille. Nur eine Woche zuvor hatten wir uns kennen gelernt und waren in dieser Woche als kameradschaftliches Team durch dieses Stückchen Land geradelt, das für die meisten Westeuropäer ein unbekannter Fleck auf der Landkarte ist. Es war eine schöne Reise.